„Die Musik in meinem Kopf war nun wichtiger für mich denn je. Sie wog nichts, und die Nazis wussten nicht einmal, dass sie da war. Sie konnten sie mir nicht stehlen, sie gehörte mir, mir allein.“ (Zuzana Ružicková, als sie nach Theresienstadt gebracht wird) Ich fahre durch die Stadt: In Hamburg ist das Licht anders, der Himmel höher als anderswo im Land. Die S-Bahn-Türen fiepen, als ich aussteige. Unten am Tunnel lassen ein paar Männer und wartend den Tag vergehen. Die Unterführung ist trotz ein wenig Bemalung so trist wie alle Bauwerke dieser Art, auf der anderen Seite durchquere ich die ehemalige Freihafengrenze mit ihrem halb verlassenen Zollgebäude und gehe weiter: Mein Ziel ist nicht weit entfernt. Hier war Zuzana Ružicková eingesperrt, als sie in Hamburg war. Foto: fbt „Wenn genügend Zeit blieb, trieben sie uns in die Keller, die zur Elbe hin offen waren, sodass wir bis zu den Knien im Wasser standen. Immer wenn eine Bombe ins Wasser oder auf eines der Schiffe fiel – was ziemlich häufig vorkam – stieg der Wasserpegel dramatisch an, und wir fürchteten jedes Mal zu ertrinken. Den Ratten, die sich oft zu uns gesellten, erging es ähnlich. (…) Es war eine Tortur, Nacht für Nacht in diesen grässlichen Kellern zu verbringen, aber zumindest waren wir nicht mehr in Auschwitz und bekamen besseres Essen“. Die junge Zuzana Růžicková ist damals in Hamburg gefangen, nach dem Krieg ist sie gerade 18 Jahre alt und wird später einer der berühmtesten Cembalistinnen weltweit. Sie hat schon die KZs in Theresienstadt und Auschwitz überlebt, ein weiteres wird sich an Hamburg anschließen, auch wenn eigentlich alles vorbei, Deutschland besiegt ist. Zugegeben: Wüsste ich nicht, worum es sich bei diesem Gebäude handelt, bliebe es auch für mich unbeachtet links liegen. Was Zuzana beschrieben hat, spielte sich genau hier ab. Das Lagerhaus G liegt am Dessauer Ufer im Hafen, es steht heute noch. Der riesige Klinkerbau mit seinen Türen, Fenstern und Türmchen döst verlassen vor sich hin, das Wasser im Hafenbecken umspielt die Sockel des offenen Kellers, es ist eine lehmige Brühe. Manche Fenster sehen aus, als sind sie seit dem Zweiten Weltkrieg – oder noch länger – hier eingebaut, die Türen sind nicht viel besser. Am Ende der langen Hausflucht stehen ein paar abgemeldete, überwiegend uralte Autos vor dem Haus, es gibt ein Büro. Fußgänger dürften hier selten unterwegs sein, am Anfang der Straße hat sich eine Spedition niedergelassen, in der Nähe ist der große Hafen-Güterbahnhof. Auch vor dem Haus führen ein paar Schienen entlang, hier fuhren die Züge, die die Inhaftierten brachten. Wenn genügend Zeit blieb? „Mittags flogen die Amerikaner ihre Angriffe, um Mitternacht waren die Engländer an der Reihe.“ Der Hafen wurde attackiert, die Aktion „Gomorrha“, ein unvorstellbares Bombardement mit Feuerstürmen, bei dem Hamburg großflächig zerstört wurde, war ein Jahr zuvor über die Hansestadt hereingebrochen. Aber Deutschland sollte erst 1945 kapitulieren. Das Ausmaß des Unrechts war nicht erst zum Kriegsende unvorstellbar. Ich will mir das nicht ausmalen: Nachts im Brackwasser dicht aneinander gedrängt, die Brühe schwappt hoch. Was für eine Art von Welt muss Auschwitz gewesen sein, wenn Zuzana Růžicková das hier als Fortschritt empfunden hat, als Wiedererlangung ihrer Würde? Vom Lagerhaus G existiert eine Art digitale Ausstellung. Sie ist das Ergebnis einer Projektarbeit an der Hamburger Universität. Die in den dort publizierten Aufsätzen zusammengefassten Fakten machen allenfalls in Umrissen deutlich, in welcher Situation sich Zuzana Ružicková befunden hat. Sie kam wegen des Geilenberg-Programms nach Hamburg, mit dem die bereits schwer beschädigte Ölindustrie Deutschlands gesichert werden sollte. Im Juli 1944 wurden zunächst 1.000 überwiegend tschechische, aber auch ungarische Jüdinnen aus Auschwitz hierher gebracht, die bei Raffinerien und Treibstoffanlagen aufräumen mussten. Dafür, lese ich weiter, ist genau hier das erste Außenlager des KZ Neuengamme entstanden: im Lagerhaus G. Als die Außenlager des KZs draußen vor der Stadt im März 1945 geräumt wurden, gab es noch 57 davon, in denen fast 400.000 Menschen festgehalten wurden. Sie wurden in Todesmärschen und mit dem Zug in drei andere Lager – u.a. Bergen Belsen – abtransportiert, dabei kamen 16.000 Menschen ums Leben. In Hamburg gab es fast 500.000 Zwangsarbeiter, die – je nach Herkunft – unterschiedlich behandelt wurden. Jüdische Menschen hatten verglichen mit anderen Gruppen die geringsten Chancen, zu überleben. Aber es gab noch mehr Höllen als nur das Lagerhaus G. Nur wenige Kilometer entfernt, in einer ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm im Stadtteil Rothenburgsort, wurde ebenfalls ein Außenlager des Neuengammer Konzentrationslagers unterhalten, das wie die anderen geräumt wurde. Am 20. April 1945 kamen 20 Kinder mit ihren vier Betreuern und sechs sowjetischen Häftlingen aus Neuengamme mit einem Transport hierher. Sie sollten als Zeugen sogenannter „medizinischer Experimente“ an Kindern ermordet werden. Im Online-Archiv Neuengamme ist weiter zu lesen, zunächst seien die Erwachsenen in das Gebäude gebracht und im Heizungskeller erhängt worden. Die Kinder wurden ebenfalls in den Keller geschafft und mussten sich in der ehemaligen Sportumkleide ausziehen. Der SS-Arzt Alfred Trzebinski spritzte ihnen Morphium. Kinder, die dann noch Lebenszeichen von sich gaben, wurde vom SS-Mann Johann Frahm erhängt. Ein zweiter Transport brachte eine Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener, die ebenfalls umgebracht oder bei einem Fluchtversuch erschossen wurden. Frahm verbrannte die Kleider der Kinder im Heizkessel der Duschen neben dem Umkleideraum. Dieser grässliche Mord, für den alle Täter – bis auf einen – mit ihrem Leben bezahlen, hatte Hintergründe, die sich anhören, als stammten sie aus dem Vorhof der Hölle. Der einstige STERN-Journalist Günther Schwarberg hatte Ende der siebziger Jahre durch beharrliche Recherchen ans Licht gebracht, wie diese Katastrophe begonnen hatte: Die 20 – schließlich in Rothenburgsort ermordeten – Kinder waren, wie auch Zuzana Ružicková, aus dem KZ Auschwitz nach Hamburg gebracht worden. Schwarberg berichtete 2015 auf Zeit-Online, der Auschwitzer KZ-Arzt Josef Mengele (von dem man auch bei Zuzana lesen kann) habe zehn Jungen und zehn Mädchen nach Neuengamme schicken sollen, die der KZ-Arzt Kurt Heißmeyer für „Versuche“ missbrauchen wollte. Schwarberg schreibt, Heißmeyer habe sich mit einer Arbeit über Tuberkulose-Versuche habilitieren wollen. Nicht nur sowjetische Kriegsgefangene wurden mit zweifelhaftesten Experimenten gequält und ermordet. Die Kinder wurden krank, nachdem man ihnen Bakterienlösung in einen Schnitt