Billstedter Notizen: Toleranz ist Arbeit

Der Mann steht mit breiten Beinen und Gitarre vor dem Bauch, ein Akkord erklingt, viel mehr Musik kommt nicht mehr. Seine Haare sind lang, der Anorak speckig, seine musikalischen Fähigkeiten begrenzt. Ab und zu taucht er hier auf dem Billstedter Bahnhof auf und versucht wohl, ein paar Cent zu verdienen. Heute schreit er: Was er sagt, ist eher schlüpfriger Natur, von „Nutten“ und „Ficken“ ist die Rede. Soll man ihn gewähren lassen? Gehört er zum Grundgeräusch der Großstadt? Beim Bäcker sitzt eine Frau und raucht ungerührt ihr Zigarillo, die Leute steigen aus ihren Bussen aus und eilen weiter zur U-Bahn, dann kommt Polizei mit Tatütata, es sind drei Streifenwagen. Der Mann ist weg, auch die Beamten bleiben nicht lange.
Toleranz ist kein Selbstläufer, denke ich, auch nicht für mich. Als der Mann nicht aufhört, zu schreien, bin ich unsicher: Wäre es nicht sinnvoll, die Polizei zu rufen? Später denke ich an die Maschinerie, die in Gang gesetzt würde, nähme die Polizei den Mann mit auf die Wache. Nichts gegen die Beamten, aber bei einem Straßensozialarbeiter wäre er besser aufgehoben. Anders liegt der Fall, wenn Passanten oder Fahrgäste anfangen, Mitreisende zu provozieren oder zu beleidigen, auch das kommt in Billstedt – glücklicherweise selten – vor. Und manchmal gibt es ja sogar Musiker, bei denen das Zuhören lohnt – so wie bei dem Trompeter, der sich bei bitterster Winterkälte ganz allein auf der Brücke ins Einkaufszentrum die Seele aus dem Leib spielte. Oder bei dem jungen Mädchen, das hin und wieder dort oben zur leicht verstärkten Gitarre singt. Die Verrückten, die Musiker – und die Normalen sowieso – machen Billstedt bunt. Und das ist gut so.